Spaltungen innerhalb derLutherischen Freikirche

1. Eine Kirche

In einem Gutachten1 Melanchthons aus dem Jahre 1536, dem Luther ausdrücklich zustimmte, wirft er den Wiedertäufern vor, „daß sie das öffentlich ministerium verbi [Dienst am Wort, der Verf.] verdammen, und die Leut davon ziehen, und doch auch selb keine Kirchen haben“. Die Wiedertäufer hatten sich in Gemeinden versammelt. Wie kann Melanchthon mit Luthers Zustimmung behaupten, daß sie keine Kirche hätten? Der Aussage, daß sie keine Kirche haben, würde ein Katholik zustimmen. Denn ein Katholik unterscheidet gedanklich zwischen Gemeinde und Kirche, auch wenn das Kirchenlatein für beides nur ein Wort hat. Unter der „einen heiligen katholischen Kirche“ des Glaubensbekenntnisses versteht ein Katholik die angeblich von Christus gegründete und der Leitung des Petrus und seiner angeblichen Nachfolger anvertraute Organisation. Alle anderen Glaubensgemeinschaften seien keine Kirche. Dieses römische Kirchenverständnis ist es, weshalb Melanchthon und Luther den Wiedertäufern vorwerfen, sie hätten keine Kirche. Um die weltweite Organisation zusammenzuhalten, benötigt man in der tat einen Papst, dessen Bevollmächtigte Lizenzen für die Verkündigung ausgeben. Nur so läßt sich die Vielfalt unterschiedlicher Lehren innerhalb einer Organisation begrenzen. In dieser römischen Denkweise war auch Luther befangen, wenn er im Blick auf die Wiedertäufer großen Nachdruck darauf legt, daß niemand ohne Befehl predigen darf: „wo man nicht auf dem Beruf oder Befehl fest stünde und dränge, würde zuletzt keine Kirche nirgend bleiben. Denn gleich wie die Schleicher unter uns kommen, und unsere Kirchen zertrennen und verwüsten wollen, also würden hernach auch andere Schleicher in ihre Kirchen kommen, und zertrennen und verwüsten, und fortan würde des Schleichens und Trennens, eins über das andere, nimmermehr kein Ende, oder müßte bald nichts mehr von keiner Kirche bleiben auf Erden“.2 Damit auf Erden eine Kirche erhalten bleibt, halten Katholiken einen Papst für notwendig. Diese Denkweise läßt sich durch folgendes Schlagwort veranschaulichen: „Lieber falsch und gemeinsam als richtig und einsam“.

2. Papst und Tradition im Luthertum

Daß mit dem römischen Papsttum etwas falsch läuft, wurde durch Tetzels Ablaßhandel offensichtlich. Doch wie den Ablaßbetrüger loswerden, ohne daß die Kirche auseinanderfällt? Wie die Fürsten zur Zeit Luthers auf Kosten des Kaisers an politischer Macht gewannen, so kam ihnen die theologische Ablehnung des Papsttums sehr entgegen, konnten sie ihre Macht zusätzlich auch noch auf Kosten des Papstes erweitern. Wie sich die politische Macht vom Kaiser zu den Landesfürsten verlagerte, so zerfiel die vom Papst geführte Weltkirche in einzelne Landeskirchen. Einige von ihnen haben durch die Reformation den letzten Rest päpstlicher Herrschaft abgeschüttelt. Doch die Polemik, daß der Papst der Apostel des Teufels sei, muß nicht bedeuten, daß auch die Denkweise des Papsttums überwunden wäre. Denn auch, wenn eine Landeskirche durch die Reformation gegangen ist, muß sie irgendwie zusammengehalten werden. Auch nach der Reformation bestand die Denkweise fort: „Lieber falsch und gemeinsam als richtig und einsam“.

Luther wollte keine neue Kirche gründen, sondern die eine Kirche lediglich reformieren. Die Katholiken entnehmen ihre Lehre der Tradition, die vom Papst interpretiert wird. Die Tradition als Erkenntnisquelle ist auch im Luthertum nicht völlig überwunden. Im Nicänischen Glaubensbekenntnis steht, daß der Heilige Geist vom Vater und vom Sohn ausgehe. Die Schrift lehrt, daß der Heilige Geist vom Vater ausgeht und daß der Sohn ihn sendet. Dafür, daß der Heilige Geist auch vom Sohn ausgehe, wird in den Dogmatikbüchern keine Bibelstelle genannt. Diese Lehre wird im Kontext anderer Aussagen, die mit einer Fülle von Bibelstellen belegt werden, vermittelt. Dadurch kann es leicht übersehen werden, daß keine biblische Begründung zu diesem Detail der Dreieinigkeitslehre gegeben wird. Trotzdem gilt es als lutherische Lehre, daß der Heilige Geist auch vom Vater ausgehe. Denn es handelt sich nicht etwa um eine Neuerung durch das Papsttum, sondern sie geht auf die Alte Kirche zurück. Doch das bedeutet, daß die Tradition – auch wenn im Unterschied zu Rom lediglich die älteste Tradition – Quelle lutherischer Kirchenlehre ist, und nicht die Schrift allein.

3. Luther

Wenn Luther sowohl den Papst in Rom verwarf als auch die römische Tradition, auf die sich das Papsttum und andere Mißstände gründeten, dann blieb ihm nichts anderes übrig als zu lehren: „allein die Schrift“. Doch das war nicht seine tiefste Überzeugung. Das sieht man an seiner Bibelübersetzung. So fügte er dem Gotteswort in Röm. 3,28 ein „allein“ hinzu: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“. Anders als Luther behauptet, ist keineswegs alles andere ausgeschlossen. Zwar sind die Gesetzeswerke ausgeschlossen, nicht aber die Glaubenswerke. Denn im Jüngsten Gericht zählt Jesus lauter Werke auf, wenn er sagt: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben, … ihr habt mir zu trinken gegeben, … ihr habt mich aufgenommen, … ihr habt mich bekleidet, … ihr habt mich besucht. …“ (Matth. 25,35f). Daß es sich nicht um Gesetzeswerke handelt, sondern daß die Taten aus der Liebe herausgewachsen sind wie die Früchte aus einem guten Baum, das zeigt die verwunderte Frage: „Wann haben wir …?“ (V. 38f). Doch daß es Glaubenswerke gibt, die keine Gesetzeswerke sind, sondern von selbst aus dem Glauben herausgewachsen sind wie die Früchte aus einem guten Baum, blieb dem Luther verborgen. Denn Luther war ein übler Baum, der die üble Frucht des Blutvergießens hervorgebracht hat. So forderte er die Obrigkeit auf, die Wiedertäufer notfalls dem Henker zu übergeben.3 Daher konnte er Werke nicht als Erscheinungsform des Glaubens erkennen, sondern nur als etwas sehen, das von außen zum Glauben hinzukommt, wodurch sie zu Gesetzeswerken werden, die in der Tat ausgeschlossen sind.

Die Entgleisungen des Reformators sind in seinen Schriften gut dokumentiert. Trotzdem sind sie weitgehend unbekannt. Das liegt daran, daß in der Kirchengeschichtsschreibung der Weltgeist den „Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann“, (Joh. 14,17) verdrängt hat. In der DDR hatte ich in der Schule gelernt, daß die Sowjetarmee bei der „Befreiung“ Berlins Essen verteilt hat. In keiner DDR-Veröffentlichung war etwas Schändliches über die „Befreier“ zu lesen. Dieser Stil der Geschichtsschreibung ist in der „Welt“ gang und gäbe; und je mehr die „Gläubigen“ dem Weltgeist erliegen, um so mehr prägen Geschichtsfälscher die Kirchengeschichtsschreibung. Der Hinweis auf die gut dokumentierte Hetze des Reformators wird als glaubenszersetzend empfunden. Doch das setzt voraus, daß man sich nicht allein auf die Schrift gründet, sondern auch auf die Tradition und auf St. Luther.

Luthers Behauptung, die deutsche Sprache erfordere ein „allein“, kann nicht überzeugen. Denn das neutestamentliche Griechisch hat eine Vokabel, die dem deutschen „allein“ entspricht. Wir finden sie in Jakobus 2,24, wo es heißt: „So seht ihr nun, daß der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein“. Würde ein „allein“ in Röm. 3,28 gehören, dann würde dieses Wort dort auch stehen. Anstatt sich durch die Schrift korrigieren zu lassen, hat der Bluthund Luther das Gotteswort nach seiner Theologie zurechtgebogen.

Das Gotteswort hat er auch an einer anderen Stelle verfälscht. In der Bibel wird „Gesetzlosigkeit“ (griechisch: anomia) negativ gewertet. Doch Luther war ein Prediger der Gesetzlosigkeit. Folglich gibt er das Wort „anomia“ (Matth. 7,23; 13,41; 23,28; 24,12; Röm. 4,7; 6,19; 2. Kor. 6,14; 2. Thess. 2,3.7.8; Tit. 2,14; Hebr. 1,9; 10,17; 1. Joh. 3,4) an keiner Stelle mit „Gesetzlosigkeit“ wieder, sondern schreibt dafür: „Übeltäter“, „Unrecht“, „Ungerechtigkeit“ oder „Bosheit“. Auf die üblen Machenschaften Luthers mußte wegen des Grundsatzes „allein die Schrift“ hingewiesen werden. Denn dieser Glaube erfordert die Zerstörung sämtlicher Götzenbilder und menschlicher Autoritäten. „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus“ (1. Kor. 3,11). Folglich darf weder der Papst in Rom noch der Papst in Wittenberg das Fundament des Glaubens sein.

4. Kirche als Organisation

Die Landeskirchen, die durch die Reformation gegangen sind, wurden von Mißständen gereinigt, aber nicht von allen Mißständen. Wenn irgendwelche Dogmen auf dem Papier geändert werden, dann bedeutet das noch lange nicht, daß dadurch auch das Denken und Empfinden der Menschen in gleicher Weise geändert wird. Der Papst in Rom wird als Antichrist verworfen. Dafür haben wir „Vater Luther“. So wurde der Reformator lange Zeit genannt in frecher Ignorierung der Worte Jesu: „ihr sollt niemanden unter euch Vater nennen auf Erden“ (Matth. 23,9). Auch das römische Verständnis von Kirche hat die Reformation überdauert. Die Kirche sei unsere Mutter. Dieser Ausdruck kommt sogar in der Bibel vor, und zwar in Gal. 4,26, wo es von Isaaks Mutter im Unterschied zu Hagar heißt; „Aber das Jerusalem, das droben ist, das ist die Freie, das ist unsere Mutter“. Daß aber von der Papstkirche, der Landeskirche oder irgendeiner Organisation von „Mutter“ gesprochen wird, zeigt, wie sehr die geistliche Wirklichkeit des Reiches Gottes mit irgendeiner irdischen Organisation verwechselt wird.

In Lehrdokumenten mag stehen was will, das römische Kirchenverständnis hat die Reformation überdauert. Die „heilige Ordination“ wird als Priesterweihe empfunden, die befähige, Brot und Wein in Leib und Blut Christi zu verwandeln. Als in der Frühphase der altlutherischen Kirche alle Pastoren bis auf einen eingesperrt waren, war die Sorge, wer das Abendmahl austeilen wird, wenn auch der letzte Pastor ins Gefängnis kommen sollte. Darauf, daß die „heilige Ordination“ als Priesterweihe empfunden wird, deutet auch die Tatsache hin, daß ein Pastor beim Wechsel zu einer anderen Gemeinde nicht erneut ordiniert wird, so wie jemand beim Gemeindewechsel auch nicht erneut getauft wird.

Wenn man die Kirche als Organisation empfindet, dann stellt sich die Frage: Wer oder was ist die Kirche? Ist es die Ortsgemeinde oder aber die überregionale kirchliche Organisation? Relevant wird diese Frage beim Bußsakrament. Bei den Kontroversen zwischen der altlutherischen Kirche und der von ihr vorübergehend abgespaltenen Immanuelsynode stand die Frage im Raum: Kann das Oberkirchenkollegium Sünden vergeben? Christus gab dem Petrus und den anderen Jüngern die Vollmacht, Sünden zu vergeben oder zu behalten. Diese Vollmacht beansprucht der angebliche Nachfolger Petri für sich und für die Bischöfe, die die Nachfolger der Apostel seien. Die Auffassung, daß Jesu Vollmacht weitergegeben wurde, hat die Reformation überdauert. Wenn aber nicht mehr der Papst befähigt Sünden zu vergeben, wer hat dann diese Vollmacht? Die Antwort ist: Die Kirche. Doch wer oder was ist die Kirche? Jedes getaufte Gemeindeglied oder nur der ordinierte Pastor? Kann auch das Oberkirchenkollegium der altlutherischen Kirche Sünden vergeben? Was geschieht in der Ordination? Ein riesiger Wust von Fragen türmt sich auf, wenn die menschliche Klugheit erst einmal damit anfängt, an Bibelaussagen oder überkommene Lehrauffassungen anzuknüpfen und ein theologisches Lehrgebäude zu errichten. Das römisch-katholische Lehrgebäude ist in sich geschlossen. Entfernt man daraus ein Element, z. B. die Rolle des Papstes, dann kommt alles ins Rutschen und wird in sich widersprüchlich. Weil alles mit allem irgendwie zusammenhängt, deshalb kann man nicht irgendwelche Lehren aus vorreformatorischer Zeit übernehmen, sondern der Verkündigungsinhalt muß ganz neu von der Heiligen Schrift aus entfaltet werden. Doch zuvor muß man sich grundsätzliche Gedanken über die Methode der Erkenntnisgewinnung machen.

5. Die Methode der Erkenntnisgewinnung

Man kann induktiv oder deduktiv vorgehen. Induktiv bedeutet, die einzelnen Bibelaussagen zusammenzutragen und auf diese Weise die Lehre zu entfalten. Gang und gäbe ist dagegen aber die deduktive Vorgehensweise. Man geht von einem theologischen System aus, von dem man meint, es sei der Bibel entnommen, und biegt die einzelne Bibelstelle nach den Erfordernissen des vorgegebenen theologischen Systems zurecht. Die Grenze vom rational durchstrukturieten Lehrsystem zum hohlen Bauch, der Charismatikern als Erkenntnisquelle dient und den sie mit einer Eingebung durch den Heiligen Geist verwechseln, ist durchaus fließend. Die deduktive Vorgehensweise kann nur deshalb gang und gäbe sein, weil über die Methode der Erkenntnisgewinnung nicht reflektiert wird. Mit einer Selbstverständlichkeit setzt man voraus, daß das Gotteswort nicht unvernünftig sei. Besonders weit gehen dabei die Zeugen Jehovas, die aus ihrer menschlichen Klugheit heraus, daß drei ungleich eins ist, die Trinitätslehre ablehnen. Die Akrobatik, die bei der Bibelauslegung notwendig wird, um diese durch menschliche Klugheit gewonnene „Erkenntnis“ als schriftgemäß erscheinen zu lassen, geht manchem, der ansonsten deduktiv vorgeht, aber doch zu weit. So gibt es eine Fülle theologischer Richtungen, je nachdem, wie man das theologische Lehrgebäude konstruiert und in welchen Anteilen man deduktiv und in welchen Anteilen man induktiv vorgeht. Manche reformierte Theologen räumen die deduktive Arbeitsweise auch ein. So schreibt Bullinger (1504-1577): „Wo es die Sinnlosigkeit nicht aus Gründen der Vernunft, sondern der Frömmigkeit, der Widerspruch mit den Schriften und den Artikeln des Glaubens erzwingt, sagen, bekräftigen und behaupten wir, daß es fromm, ja notwendig ist, vom Buchstaben und der Einfachheit der Worte zu weichen“.4 Auch Ebrard (1818-1888) rechtfertigt das Mittel der „systematischen Deduction“, um die Lehre zu entfalten.5

Lutheraner lehnen vom Grundsatz „allein die Schrift“ her die deduktive Methode in der Bibelauslegung ab, so wie alle christlichen Gemeinschaften gegen den Ehebruch sind. Doch wie es in allen Konfessionen Ehebrecher gibt, so sind auch Lutheraner Sünder und deshalb nicht immer frei von einem deduktiven Umgang mit der Bibel. Lutherische Theologie wird auch für ein alternatives Lehrsystem zur reformierten Theologie gehalten. So jedenfalls stellt Prof. Dr. M. Schneckenburger6 die Unterschiede der Konfessionen dar. Es ist zu befürchten, daß diese Sicht nicht völlig unberechtigt sein könnte.

6. Vollmacht zur Sündenvergebug

Jesus gab dem Petrus und den anderen Jüngern die Vollmacht, Sünden zu vergeben und zu behalten. Christus hat auch seine Botschaft den Jüngern übergeben, und diese haben sie aufgeschrieben. Die Bücher gehören zur Bibel, die die Apostel als deren Bestandteil anerkannt hatten. Doch diese besondere Vollmacht der Apostel ist mit deren Tod erloschen. In Rom mag man das anders sehen, worauf z. B. die Verkündung des Dogmas von Mariae Himmelfahrt hindeutet. Die Römer beanspruchen für sich auch die Vollmacht der Apostel, Sünden zu vergeben. Mit diesem ihrem Monopol haben sie großen Gewinn erwirtschaftet und dadurch die Reformation ausgelöst.

Wenn wir aber in Kirchenkategorien denken, wenn wir davon ausgehen, daß Christus die Kirche als Organisation gegründet habe, dann wollen wir die Organisation fortführen und lediglich reformieren. Dann bleibt die Vollmacht, Sünden zu vergeben, erhalten; sie wird aber vom Papsttum abgetrennt. Wenn wir uns erst einmal von der Bibel gelöst haben und zu einer unbiblischen Position gekommen sind, dann können wir die Fragen, die sich aus der unbiblischen Position ergeben, auch nicht von der Heiligen Schrift her beantworten. Uns bleibt dann nichts anderes übrig, als wie ein reformierter Theologe irgendwelche theologischen Systeme konsequent weiterzuentwickeln. Doch das kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Dabei kommt man zu Lehraussagen, die sich gegenseitig ausschließen. Spaltungen sind die Folge.

Wenn kein Papst die Verwaltung des Amtes der Schlüssel regelt, wenn es nicht einmal geweihte Priester gibt, wer soll dann das Amt der Schlüssel verwalten? Natürlich der Prediger. Doch wer ist ein Prediger? Dann wird mit einmal die Frage relevant, ob der Sechsjährige, der am Heiligen Abend eine Weissagung aufsagt, als Prediger zu betrachten ist. Oder hat die Gemeinde das Amt der Schlüssel? Doch wer ist die Gemeinde? Ist es die Versammlung der ganzen Gemeinde? Die Versammlung der volljährigen Männer? Ab welchem Alter ist ein Mann volljährig? Ist eine Gruppe in der Gemeinde, z. B. der Kirchenchor oder der Jugendkreis, als Gemeinde zu betrachten? Ist der Synodalverband auch Gemeinde? Da wir in der Bibel keine Antworten finden, müssen wir wie ein reformierter Theologe das System der Lehre auf das Ziel hin weiterentwickeln, zu Antworten zu kommen. Da man das aber auf unterschiedliche Weise tun kann, führt dies zu Kirchenspaltungen. Denn als Lutheraner hat man keinen Papst, der die Lehrsysteme verbindlich bewertet. Das Problem tritt auf, wenn irgend etwas zu entscheiden ist. In einem Staat ist geregelt, wer was entscheidet, ebenso in der Katholischen Kirche. Wenn man die Kirche als Organisation betrachtet, dann sind ebenfalls Entscheidungen zu treffen. Wer kann jemanden aus der Gemeinde ausschließen? Wer entscheidet über Kirchengemeinschaft mit anderen Organisationen? Die entscheidende Frage im Hintergrund ist folgende: Wird überhaupt etwas entschieden, oder wird lediglich ein vorgegebener Sachverhalt diagnostisch erkannt?

7. vorgeschobene Gründe

Wenn etwas entschieden wird, dann werden oft irgendwelche Gründe vorgeschoben, die entscheidenden Motive aber bewußt verborgen. In der Politik erleben wir das ständig. Wegen der Hitlerverbrechen führte Amerika gemeinsam mit Stalin einen „Kreuzzug“ für Menschenrechte, für Demokratie und – das ist der Gipfel des Zynismus – auch für Glaubensfreiheit. Zur Zeit führt Amerika überall in der Welt Kriege für Demokratie. Wählt das Volk aber Islamisten, dann schert sich Amerika einen Dreck um Demokratie, sondern zeigt sein wahres Gesicht als Schurkenstaat.

Mit diesen Mechanismen, wie sie in der Welt ständig und überall ablaufen, ist auch das Gottesvolk konfrontiert, wenn der Weltgeist in seine Reihen eindringt. Jesus wurde von den Hohenpriestern abgelehnt. Seine angeblichen Sünden, z. B., er würde den Sabbat nicht halten, waren lediglich vorgeschoben und können den abgrundtiefen Haß nicht allein erklären. Das wirkliche Motiv war aber: „alle Welt läuft ihm nach“ (Joh. 12,19; Jh. 11,46-53). Jesus gefährdete somit die Wichtigkeit der Hohenpriester. Luthers 95 Thesen waren konzipiert als Auftakt zu einer Disputation über den Ablaß. Doch der anderen Seite ging es nicht um Bibellehre, sondern um das Geschäft.

Sachfremde Entscheidungen gibt es auch bei der Freikirche. Die Freikirche stand in Kirchengemeinschaft mit der SELK, obwohl dort Bibelkritik toleriert wurde. Als ich im Jahre 1982 in die Bundesrepublik übersiedelte, hatte ich mich in dem Bewußtsein nicht der SELK angeschlossen, daß Synoden und Kirchenleitungen nichts zu entscheiden haben. Die Einheit im Glauben kann von niemandem deklaratorisch festgelegt, sondern nur diagnostisch erkannt werden. Und wenn irgendwelche Verräter der Sache Christi den schafspelztragenden Wölfen in der SELK fälschlicherweise Rechtgläubigkeit bescheinigen, dann darf das falsche Zeugnis der Verräter der Sache Christi für das eigene Handeln nicht entscheidend sein. Denn als Rebe sollen wir direkt am Weinstock hängen und nicht an irgendwelchen Pastoren, die entweder mit dem Papst oder mit irgendwelchen theologischen Kommissionen verbunden sind, von denen behauptet wird, sie würden an Christus hängen.

Vieles deutet darauf hin, daß bei der Kirchengemeinschaft der Freikirche mit der SELK ebenso sachfremde Erwägungen entscheidend waren wie bei der Kriegspolitik Amerikas, wie bei der Verwerfung Jesu durch die Hohenpriester und wie bei der theologischen Rechtfertigung des Ablaßhandels. Die WELS hatte keine direkte Kirchengemeinschaft mit der SELK, hatte aber über die Freikirche Kirchengemeinschaft mit der SELK um die Ecke. Die WELS wollte dieses Durcheinander ordnen. Die Freikirche, die sowohl von der WELS als auch von der SELK Finanzen erhielt, wollte aber auch weiterhin beide Kühe melken. Als das aber nicht mehr möglich war und die WELS für den Fall des Bruchs mit der SELK Finanzen zugesagt hatte, entschied man sich für die WELS. Die Synode brach mit der SELK und mit den Altlutheranern. Dieser Bruch bedeutet: Am Sonntag vor der entsprechenden Entscheidung der Synode war es keine Sünde, in einer altlutherischen Gemeinde zum Abendmahl zu gehen; am Sonntag nach dem Bruch war es aber eine Sünde. Oder noch drastischer ausgedrückt: Ob der Abendmahlsgang bei den Altlutheranern eine Sünde ist, ist von finanziellen Zusagen durch die WELS abhängig. Die Anmaßung, durch einen Rechtsakt festzulegen, was Sünde sei, das ist Papsttum. Diese Anmaßung wirkt sich auf Gemeindeebene folgendermaßen aus: Die Schwiegereltern meiner Cousine (Monika Reiter, geb. Rau) in Zwickau gehören zur altlutherischen Kirche. Als Folge des Bruchs der Kirchengemeinschaft wurden sie nicht mehr zum Abendmahl in Zwickau zugelassen. Dabei sind sie keineswegs Ketzer, sondern treue Christenmenschen. Was ist diesen Christenmenschen vorzuwerfen?

8. Das Gotteswort zurechtbiegen

Der damalige Präses Gerhard Wilde sagte, vorher sei die Irrlehre in der SELK und bei den Altlutheranern nicht offenbar gewesen. Doch das ist eine faustdicke Lüge. Lug und Trug ist die Taktik des Teufels nicht nur in der Politik; sondern auch in der Theologie ist es gang und gäbe, das Gotteswort so zurechtzubiegen, wie es die eigene Wichtigkeit und die Organisation, der man dient, zu erfordern scheinen. Weil sie es für notwendig erachteten, um den Pilatus zur Rechtsbeugung zu erpressen, verwarfen die Hohenpriester die Hoffnungen ihres Volkes auf den Messias, indem sie sagten: „Wir haben keinen König als den Kaiser“ (Joh. 19,15). Der römische Beamte konnte nicht weniger kaisertreu sein als die jüdischen Hohenpriester. Es gibt viele Beispiele dafür, daß die Glaubenslehre so gestaltet wird, wie es dem Gedeihen der eigenen Organisation, die man anscheinend mit dem Reich Gottes verwechselt, zu dienen scheint. Die Zeugen Jehovas und die Neuapostolischen bauen Elemente in ihre Theologie ein, durch die die innere Zustimmung zu ihren Lehren es notwendig macht, die bisherigen Glaubensgemeinschaften zu verlassen und sich den Zeugen Jehovas bzw. den Neuapostolischen auch organisatorisch anzuschließen. Das ist das Anrufen des Namens Jehovas (Apg. 2,21) und bei den Neuapostolischen das Sakrament der Versiegelung, das nur von einem Apostel gespendet werden könne. Abseits der identitätsstiftenden Schibboleths ist der Abfall von Christus aber erheblich. Das ist auch bei der Freikirche der Fall.

9. Die Beitz-Kontroverse

Nachdem im Jahre 1924 Schüler einer WELS-Schule wiederholt und gemeinschaftlich auf Diebestour gegangen waren, hat Pastor Beitz diese Sünde auf Mängel in der Verkündigung und in der Predigerausbildung zurückgeführt. Doch anstatt sich vom Gotteswort korrigieren zu lassen, wollte man den lästigen Bußprediger loswerden. Deshalb warf man ihm Irrlehre vor. Er würde Rechtfertigung und Heiligung miteinander vermischen. Anstatt ins Detail zu gehen, verweise ich auf meinen deutschsprachigen Brief an Präses Mischke, den ich um das Jahr 1990 herum an alle Pastoren der Freikirche verschickt hatte und der auch auf www.johannes-lerle.net (Rubrik: Theologie) abrufbar ist. In diesem Brief ist aus einem Papier von Pastor Jeske zur Kirchengeschichte zitiert. Die deutsche Übersetzung des Zitats ist folgende: „ Ganz gleich, ob die Suspensionen gerecht waren oder nicht, aber sie waren formell bestätigt bei drei unabhängigen Gelegenheiten durch eine Stimmenzahl (bei Abstimmungen) einer beträchtlichen Mehrheit, und als solche verdienten sie, innerhalb der Synode als autoritativ anerkannt zu werden“. Diese Worte bedeuten, daß WELS-Synoden eingeräumte Fehlentscheidungen mit Rechtskraft versehen können. So etwas kann nicht einmal der Papst in Rom, der lediglich durch den Geist Gottes vor Fehlern bewahrt werde.

Ein lutherisches Schibboleth ist, daß das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet ist. Doch das ist eine tote Lehrformel, die genausowenig verstanden wird, wie ein Schüler die Mathematik versteht. Die Schüler setzen irgendwelche Zahlen in Zauberformeln mit sinus und cosinus ein, ohne daß es sie interessiert, was ein sinus oder cosinus ist. Wie den Schülern die Mathematik innerlich fremd ist, so ist vielen freikirchlichen und WELS-Pfaffen Christus fremd, der die Gemeinde regieren will und nicht bereit ist, seine Königsherrschaft an den Papst in Rom oder an irgendwelche synodale Mehrheiten abzutreten. Deshalb führte das Zitat im Brief an Präses Mischke nicht zum Aufschrei des Entsetzens. Was haben all die Pastoren während ihres fünfjährigen Studiums überhaupt gelernt? Anscheinend haben sie lediglich Daten in ihren Gehirnen wie auf einer Computerfestplatte abgespeichert, z. B., daß das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet ist. Aber wie ein Computer nur Daten miteinander abgleichen, aber als toter Gegenstand nicht denken kann, so merken auch diese Trottel nicht, daß das positivistische Festsetzen von Lehre durch synodale Mehrheiten übelstes Papsttum ist, auch wenn diese Vokabel fehlt und deshalb von keinem Computerprogramm erfaßt werden kann. Der damalige Präses Gerhard Wilde sagte mir, daß die im Mischkebrief aufgeworfenen Lehrfragen mein Problem seien und die Freikirche nichts angehen würden. Früher gingen die Irrlehren in der SELK die Freikirche nichts an. Doch dann wurden sie kirchentrennend. Lehrfragen werden also so hingebogen, wie man es braucht.

Das ist die sittliche Verkommenheit, wie sie in der Politik gang und gäbe ist. Da werden Kriege geführt für Menschenrechte und für Demokratie. Wenn die Leute aber falsch wählen, z. B. irgendwelche Islamisten, dann spielt Demokratie überhaupt keine Rolle mehr. Ebenso ist Irrlehre nur dann kirchentrennend, wenn es die Kirchenpolitik erfordert. Deshalb war SELK-Irrlehre nicht kirchentrennend, deshalb wurde sie kirchentrennend, deshalb ist WELS-Irrlehre nicht kirchentrennend. Die Lehre wird danach zurechtgebogen, wie es die Wichtigkeit irgendwelcher Häuptlinge erfordert. Deshalb wurde Jesus als Sünder und Sabbatschänder und vor dem Hohen Rat sogar als Gotteslästerer verunglimpft. Deshalb wird in allen Denominationen der Schmale Weg erheblich verbreitert, indem zwar die identitätsstiftenden Schibboleths verteidigt werden, aber mehr und mehr Lebensbereiche von der gelebten Jesusnachfolge ausgeschlossen bleiben.

10. „Reine Lehre“ trotz Abfall von Christus

Auch kommen Mechanismen zum Tragen, die in der Politik ihre Entsprechung haben. Wollen die einen eine bessere Straßenanbindung, und sind die anderen gegen den Verkehrslärm, dann wird die Straße in größerer Entfernung zur Ortschaft gebaut. Wollen die einen die konkurrierende Königsherrschaft Jesu beseitigen, die anderen aber ihre kirchliche Identität bewahren, dann wird ihnen diese zugestanden, einschließlich der Beibehaltung der identitätsstiftenden Schibboleths. Lediglich die Königsherrschaft Jesu wird auf solche Bereiche beschränkt, an denen die weltliche Obrigkeit nur ein eingeschränktes Interesse hat. Dazu braucht das Gotteswort scheinbar nur geringfügig den Verhältnissen angepaßt werden: Gebt dem Kaiser das, von dem der Kaiser behauptet, es sei sein. Auf diese Weise läßt sich die Verfolgung vermeiden, die Jesus seinen Nachfolgern vorhergesagt hat. Denn der Haß der Welt beschränkt sich lediglich auf Christus und auf diejenigen, die Christus angehören; er richtet sich aber nicht gegen die Kirche. Und in der Tat, sogar während der Nazizeit blieben die Kirchen geöffnet. Die Pfaffen taten ihren Job, vorausgesetzt, sie wußten, wie weit sie gehen dürfen.

Wäre mein Buch Haben die Apostel Säuglinge getauft? in der Hitlerzeit erschienen, dann hätte es keine Probleme mit der Gestapo gegeben. In der DDR wäre es auch nicht anders gewesen, und in der Bundesrepublik interessiert mein Buch keinen Staatsanwalt. Doch ein Diener Christi muß wie seinerzeit Elia und die anderen Propheten und wie Christus und die Apostel auch den Götzendienst seiner Zeit thematisieren. Solch ein Exot, der genau das tat, was die vielen Kanzelschwafler mit ihrer mehr oder weniger „reinen Lehre“ hätten getan haben müssen, war in der Nazizeit der reformierte Dorfpfarrer Paul Schneider. Er zeigte, daß die Person Hitler die Rolle eines Messias einnimmt und daß derjenige Christus verliert, der Hitler nachfolgt. Da er ähnlich wie die Apostel, denen verboten worden war, im Namen Jesu zu predigen, sich nicht an die Predigtverbote der Obrigkeit gehalten hatte, kam er nach mehreren Gefängnisaufenthalten ins KZ Buchenwald, wo er im Juli 1939 „gestorben“ wurde. Im Unterschied zu Bonhoeffer, der als Heiliger verehrt wird, weil er für den britischen Kriegsgegner spioniert hatte, hatte Pastor Schneider nicht für die Kriegsgegner gearbeitet. Denn kurz vor Kriegsausbruch wurde er wegen seines hartnäckigen Christuszeugnisses „gestorben“. Dadurch ist sein Tod eine Anklage an all die vielen Kanzelschwafler, die meinten, zwei Herren dienen zu können. Der theologische Dreh für ein derartiges Kunststück ist Luthers Zweireichelehre, die mit der biblischen Zweireichelehre verwechselt wird. Nach der Schrift sind wir Bürger des Reiches Gottes und Fremdlinge in der Welt. Nach der Lehre Luthers sind wir aber Bürger zweier Reiche. Der Schmale Weg wird dadurch erheblich verbreitert, daß man jegliches antichristliche Heidentum, das in einem politischen Gewand daherkommt, dem Bereich der Politik zuordnet, auf den die Verkündigung wegen Luthers Zweireichelehre nicht eingehen dürfe. Und so schwafelten oder schwafeln die Pfaffen die „reine Lehre“ und ignorieren den anderen Christus, der in der Gestalt Hitlers oder in der Gestalt des Proletariats oder in der Gestalt der amerikanischen Nation den Kopf der Schlange aus 1. Mose 3 zerschmettern werde.

Zwar gerät die Nachfolge Christi aus dem Blick, die identitätsstiftenden Schibboleths bleiben aber erhalten. Doch auch diese ändern sich im Laufe der Zeit. Und weil die sich ändernden Schibboleths identitätsstiftend sind, kann es zu Spaltungen kommen, wenn die verschiedenen Änderungen nicht miteinander vereinbar sind. Das römische Verständnis von Kirche als einer Organisation hat die Reformation überdauert und lebt bis heute in den Landeskirchen fort. Das wird auch daran erkennbar, daß Glaubensgemeinschaften außerhalb der Landeskirchen als „Sekte“ verächtlichgemacht werden, vor allem dann, wenn sie die ökumenische Bewegung ablehnen. Auch die Altlutheraner hatten dieses Kirchenverständnis. Sie verstanden sich als Fortsetzung der lutherischen Landeskirche in Preußen. Die Einführung der neuen Agende, durch die die Union in die Abendmahlsliturgie kam, war mit dem Selbstverständnis als Lutheraner unvereinbar. Denn die Bekenntnisschriften schlossen das reformierte Abendmahlsverständnis aus. Daß aber die die Heilige Schrift durch zunächst geringe Mengen von Sauerteig der Bibelkritik an Bedeutung verlor, was früher oder später zum totalen Unglauben führen muß, war den Hütern der überkommenen Schibboleths aber nicht voll bewußt; und so wurden und werden die Kamele der Bibelkritik verschluckt.

Die Verfolgung der preußischen Lutheraner steigerte das konfessionelle Bewußtsein in Sachsen. Und dieses führte zur Ablehnung der Bibelkritik. Doch die Trennung von der Landeskirche war nur durch Auswanderung möglich. Man gründete in Amerika die Missouri-Synode. Sie war die Fortsetzung der lutherischen Orthodoxie auch in negativem Sinn. Das Negative der lutherischen Orthodoxie ist eine Mentalität, die der der Pharisäer der Zeit Jesu erschreckend ähnlich ist. Die Pharisäer strebten nach Perfektion in der Gesetzeserfüllung, doch das Wichtigste im Gesetz, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und der Glaube, blieb ihnen innerlich fremd (Matth. 23,23). In dem Bewußtsein, nicht durch Werke, sondern durch Glauben gerecht zu werden, streben Lutheraner nach Perfektion in der Lehre. Bis in die letzten Details unterscheiden sie zwischen „reiner Lehre“ und Irrlehre. Doch dieses Unterscheiden von Lehren ist aber etwas anderes als die Geistesgabe der Geisterunterscheidung (1. Kor. 12,10). Auch ein entsprechend programmierter Computer kann Lehren unterscheiden. Z. B. kann er das Papsttum den Werken des Teufels zuordnen. Wird aber die Vokabel „Papst“ durch „Synodalversammlung“ ersetzt, dann registriert ein Computer nicht einmal dann das teuflische Wesen, wenn die Synodalversammlung sich anmaßt, eventuelle Fehlentscheidungen mit Rechtskraft versehen zu können. Vergleichbar mit den Pharisäern waren orthodoxe Lutheraner Meister im Jonglieren mit theologischen Formeln, die sie aber ebensowenig verstanden wie ein Schüler den sinus und cosinus; doch das Leben in Christus blieb ihnen eine fremde Welt.

In Amerika stand man mit einmal ohne „Kirche“ da. Denn als „Kirche“ empfand man die von Christus gegründete und durch die Reformation hindurch erhaltengebliebene Organisation. Diese kirchenlose neue Situation begünstigte, daß die bisher unbeachtete Bibellehre bewußt wurde, daß Gemeinde Gottes im Vollsinn dort ist, wo die Schafe sind, die ihres Hirten Stimme hören. Es ist nicht nötig, daß eine angeblich von Christus gegründete Organisation in der amerikanischen Wildnis einen Ableger gründet. Die Missouri-Synode betrachtete sich nicht als Kirche, sondern als Dachverband einzelner selbständiger Gemeinden.

Wie in allen Denominationen seit der Zeit der Hohenpriester zur Zeit Jesu wird die Lehre auch nach dem Gesichtspunkt gestaltet, was die Wichtigkeit irgendwelcher Häuptlinge erfordert. Die theologische Akzentverschiebung findet Ausdruck im geänderten Namen: „Lutheran Church –Missouri Synod“. Kirche ist nicht mehr einzig und allein die Ortsgemeinde, sondern auch der Synodalverband. Diese neue Auffassung stand im Gegensatz zur traditionellen Meinung, und es kam zur Abspaltung.

11. Die WELS

Die WELS unterscheidet sich dadurch von der Missouri-Synode, daß ab ca. 1890 Glieder deutscher lutherischer und unierter Landeskirchen nach Wisconsin kamen und die von ihnen mit der Unterstützung deutscher Missionsgesellschaften gegründete Synode theologisch den deutschen Landeskirchen entsprach. Das gilt auch für das von Luther beibehaltene katholische Kirchenverständnis, daß auch die Synode Kirche sei. Unter dem Einfluß von Missouri entwickelte sich die WELS zu einem orthodoxen Kirchenkörper; aber auch die weniger orthodoxe Herkunft wirkte nach. Es ist sicherlich kein Zufall, daß es zu der bereits erwähnten Beitz-Kontroverse, auf die der ebenfalls erwähnte Brief an Präses Mischke Bezug nimmt, in der WELS gekommen ist und nicht in Missouri. Mit der Perfektion in den Lehrformulierungen geht eine Abschreibtheologie einher. Wer von den „Vätern“ abschreibt, anstatt selbst in der Schrift zu forschen, der vermeidet eigene Fehler. Denn nur, wer nichts macht, der macht nichts falsch. Wozu denn sonst muß jeder Feld-, Wald- und Wiesenpastor die lateinische Sprache erlernen, wenn nicht, um besser abschreiben zu können, was als theologische Arbeit gilt?

Daß das Schlagwort von der „toten Orthodoxie“ nicht völlig unberechtigt ist, hat die Diebestour der WELS-Schüler im Jahre 1924 gezeigt. Bei dem Umgang mit dem Paragraphenwust wurde – so der Vorwurf von Pastor Beitz – aus dem Blick verloren, daß das Wesen des Glaubens ist, auf seinen Heiland zu blicken und ihm im täglichen Leben nachzufolgen. Die Beitz-Sympathisanten wurden aus der WELS ausgeschlossen. Zu Missouri konnten sie nicht gehen, da dort die vom Leben in Christus abgetrennte tote Orthodoxie schlimmer war als in der WELS. Was nutzt es, daß ein Körper alle Glieder hat, wenn er aber tot ist? Wie jemand mit nur einer Hand oder nur einem Fuß durchaus leben kann , so lebt manch einer in Christus, auch wenn er nicht zu allen Erkenntnissen durchgedrungen ist, die in den Dogmatikbüchern dargelegt sind. Dem Pastor Beitz wurde vorgeworfen, Rechtfertigung und Heiligung zu vermischen, da er das Habakukzitat in Gal 3,11 „der Gerechte wird aus Glauben leben“ auf die Heiligung bezogen hat. Diesen Zeloten der „reinen Lehre“ war nämlich unbekannt, daß wir nicht erst im Himmel aus Glauben leben, sondern schon jetzt: „Leben wir, so leben wir dem Herrn“ (Röm. 14,8).

Irrlehre sei auch Beitzens Aussage: „Du findest die Buße am Fuße des Kreuzes“. Denn dieser Satz bedeute, daß die Buße durch das Evangelium bewirkt wird, da sie doch angeblich allein durch das Gesetz gewirkt werde. Wäre der Glaube ein rationales Lehrsystem wie die Mathematik, dann würde Sündenerkenntnis ebenso zur Buße führen, wie eine mathematische Formel eine andere Formel zur Konsequenz hat. Doch die Jongleure mit den Dogmatikparagraphen haben sowohl die List des Teufels übersehen als auch nicht bedacht, daß ohne die Wirkung des Heiligen Geistes niemand glauben kann. Doch der Hauptvorwurf, der denen zu machen ist, die sich in den Dogmatikparagraphen verheddert haben, ist, daß sie nicht von der Bibel aus denken. Denn sonst hätten sie Röm. 2,4 bedacht, wo es heißt: „Weißt du nicht, daß dich Gottes Güte zur Buße leitet?“. Außerdem hätten sie bedacht, daß Judas nicht zur Buße durchgedrungen war, obwohl er Sündenerkenntnis gehabt hatte.

Auf welches Unverständnis der direkte Umgang mit der Bibel stieß, zeigt folgendes Gerücht über den Sohn des Lodscher Missionars Bodamer. Dieser Sohn gehörte zu den aus der der WELS ausgeschlossenen Beitz-Sympathisanten. Mein Vater (Ernst Lerle, 1915-2001) sagte mir, daß er gehört hat, Bodamers Sohn sei liberal geworden. Das zeigt, wie fremd den Jongleuren mit den Dogmatikparagraphen die Welt des gelebten Glaubens geworden ist, daß sie diejenigen, die ihre theologischen Spitzfindigkeiten mißachten, mit den liberalen Verächtern des Gotteswortes in einen Topf werfen.

12. Antworten durch deduktive Schlußfolgerungen

Das von der Bibel abgelöste Denken in theologischen Systemen, nach denen die einzelnen Schriftstellen zurechtgebogen werden, ist die Mentalität, die die reformierte Theologie prägt. Die Beitz-Kontroverse zeigt, daß dieser reformierte Umgang mit der Heiligen Schrift auch in das Luthertum eingedrungen ist. Hat sich die Theologie – wie z. B. beim Kirchenverständnis – von der biblischen Grundlage abgelöst, dann können die auftretenden Fragen auch nicht von der Heiligen Schrift her beantwortet werden. Es bleibt dann gar nichts anderes übrig, als in reformiert-deduktiver Weise aus einem vorgegebenen theologischen Lehrsystem Schlußfolgerungen zu ziehen. Da aber die Lehrsysteme unterschiedlich gestaltet werden können, muß es dann zu Spaltungen kommen, wenn identitätsstiftende Schibboleths betroffen sind.

Nochmals: Das römische Verständnis, daß Christus die Kirche als Organisation gegründet und dem Petrus und seinen Nachfolgern unterstellt habe, hat die Reformation überdauert. Lediglich die Führung ging auf die Landesfürsten oder auf mehr oder weniger demokratisch legitimierte Kirchenleitungen über. Dann kamen Gläubige in die missourische Wildnis und standen ohne Kirche da. Deren Gemeindegründungen waren im traditionellen Denken nicht vorgesehen. Die Änderungen im theologischen Denken, die die neue Situation hervorgebracht hat, stand im Widerspruch zur traditionellen Auffassung. Da die Freikirche eine Kirchengründung nach missourischem Vorbild ist, entfalten die amerikanischen Kontroversen auch in Deutschland ihre Kraft zur Kirchenspaltung.

Wer oder was ist Kirche? Nur die Ortsgemeinde? Auch der Synodalverband? Auch der Kirchenchor und der Jugendkreis? Diese Fragen werden dann irrelevant, wenn niemand etwas zu entscheiden hat. Auch beim sogenannten Kirchenausschluß hat niemand etwas zu entscheiden. In Matth. 18,17 heißt es: „Hört er auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und Zöllner“. Das ist kein deklaratorischer Rechtsakt, sondern ein diagnostisches Erkennen. Das eigene Urteil aufgrund des Gotteswortes kann nicht durch die Entscheidung eines Papstes oder irgendeines Gremiums ersetzt werden. In einer Organisation sollte das Handeln einheitlich sein. Deshalb wird ein Papst benötigt, auch wenn Lutheraner ihn nicht so nennen, sei er eine Einzelperson oder ein Entscheidungsgremium. Doch das Gottesvolk ist keine Organisation, sondern ein Organismus. Und die Theologie sollte auch nicht den Erfordernissen des Vereinsrechtes angepaßt werden. Für das eigene Handeln ist das Gotteswort maßgebend und nicht das falsche Zeugnis irgendwelcher Verräter, die dieses ignorieren und mit den Begriffen „reine Lehre“ und „Irrlehre“ nach kirchenpolitischen Gesichtspunkten umgehen.

 

1 Philippi Melanthonis OPERA quae sunt omnia. In: Corpus Reformatorum IV, Halis Saxonum 1837, Spalte 737-740.

2 D. Martin Luthers Brief an Eberhard von der Tannen, von den Schleichern und Winkelpredigern, 1532, in: Walch2, Band 20, Spalte 1669 oder WA 30, S. 520f.

3 S. Johannes Lerle, Martin Luther – ein Kirchendiener, aber kein Diener Christi, veröffentlicht auf www.johannes-lerle.net

4 zitiert in: Ernst Koch, Die Theologie der Confessio Helvetica posterior, Neukirchen 1968, S. 301.

5 Johannes Lerle, Grundzüge der Theologie Ebrards, Erlangen 1988, S. 72 und 211f.

6 Prof. Dr. M. Schneckenburger, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformirten Lehrbegriffs, Stuttgart 1855. Aus dem handschriftlichen Nachlasse zusammengestellt und herausgegeben durch Eduard Güder.

 

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